Bettina Rheims. Eine Retrospektive
Das KUNST HAUS WIEN zeigte, in Zusammenarbeit mit der
Galerie Jérôme de Noirmont, Paris, eine retrospetkive Ausstellung von
Bettina Rheims.
Zu sehen waren 143 Fotografien, zusammengestellt aus den Serien: Animal,
Female
Trouble, Modern Lovers, Chambre Close, Les Espionnes, Kim Harlow, Les
Aveugles, I.N.R.I., X´mas, Morceaux choisis, Pourquoi m´as-tu
abandonnée? und Shanghai.
Daß Bettina fünfundzwanzig Jahre lang vor allem Frauen fotografiert hat – und zwar vorzugsweise ent¬kleidete –, ist nicht von der Hand zu weisen. Von den Stripperinnen am Anfang ihrer Karriere bis hin zu den Frauen aus Shanghai im Jahr 2002 hat sich das Thema – von wenigen Ausnahmen abgesehen – zwar ständig erneuert, ist aber stets präsent geblieben. In diesem Augenblick der Bilanz möchte ich die Aufmerksamkeit eher auf den Aspekt der Erneuerung lenken, der den Vereinfachern entgangen ist – fraglos weil das Sujet, das freilich nur eines unter mehreren Elementen der Fotografie darstellt, ihnen den Blick getrübt hat.
Für Bettina Rheims war die Fotografie zunächst ein Schwarzweiß-Medium, eine intime Annäherung an den anderen; ähnlich wie Diane Arbus entschied sie sich dabei für Jahrmarktkünstler, für Wanderakrobaten, um über die Performance das einzufangen, was normalerweise nicht gezeigt wird. Und damals bereits zeichnete sich jene Besonderheit ab, die zu ihrem Markenzeichen werden sollte: die Neuschöpfung, die Neuerfindung des Raums der Begegnung – sei es im Atelier oder anderswo. Die Realität, das ist der andere, das sind nicht die Schaubuden am Boulevard de Pigalle, wo sie sich ihre Modelle suchte; nicht das Umfeld, die Atmosphäre oder Verhältnisse waren es, sondern die Person, die sie auf ihr Minimum reduzierte, wobei sie von vornherein alles vermied, was irgendwie nach Reportage aussah. Statt das Ereignis einzufangen wollte Bettina es her¬vorrufen, es abstrahieren, gewissermaßen an ihm teilhaben, um sich auf den Akteur des Ereignisses zu konzentrieren.
Vor der Widerspenstigkeit lebender Tiere auf dem Bauernhof oder im Zoo kapitulierend, suchte sie sich für ihren Band Animal bezeichnenderweise ausgestopfte Tiere, denn die entsprachen ihren Erwartungen besser: Sie waren eher bereit, aus ihrem Kontext herauszutreten und ließen sich, wenn ich so sagen darf, weniger ablenken, kollaborierten mehr.
Die Auftragsarbeiten, denen sie sich parallel dazu widmete – Mode, Werbung, Portraits, Plattencover, Filmplakate –, unterstützten ihre Recherchen in diese Richtung, denn sie veranlaßten sie, die Aufnahme noch strenger zu kontrollieren, die Vorbereitungen zu intensivieren, noch radikaler einzugreifen. Im fruchtbaren Dialog mit dem „vernacular", um einen Ausdruck der Amerikaner zu verwenden, schärfte sich Bettinas Sinn für die Konditionierung, das heißt, für die Inszenierung des fotografischen Theaters. Das Modell richtet sich her, um besser zu wirken; es lernt zwar eine Rolle, spielt aber die eigene, und nur so kann es zutiefst es selbst sein.
Für den Fotografen ist die kommerzielle Arbeit vermutlich das, was das Zeichnen für den Maler war und was Ingres „die Redlichkeit der Kunst" nannte. Bettina hat darin ihr eigenes Vokabular wie auch ihre Grammatik entwickelt, und zwar so sehr, daß ihre Bilder im Grunde genommen ein kohärentes, untrennbares Ganzes bilden. Female Trouble dokumentiert die ersten Resultate dieses Tête-à-tête, dieser Konkurrenz, bei der etwa die Farbe – gedämpft für die Bedürfnisse der Werbung und der Presse – ihren Einzug hielt.
Sie hätte sich damit begnügen können, diese Ader weiter auszuschlachten, doch den wahren Künstler zeichnet es aus, daß er immer Appetit auf etwas Neues hat; und hier komme ich auf den Aspekt der Erneuerung zurück.
Ab 1990 begann für Bettina – und für mich, der mit einigem Stolz von sich sagen darf, er sei dabeigewesen – die Zeit der großen Projekte. Wir träumten von einem Buch, das nicht nur eine Ansammlung von Bildern wäre, sondern ein vollständiges, fertiges Objekt, in dem Fotos und Text einander entsprechen, sich gegenseitig recht¬fertigen sollten und dessen Elemente in ihrer Gesamtheit – bis hin zum kleinsten Detail des Layouts – ein geschlossenes Ensemble darstellen würden, also jenes perfekte „Ei" à la Gide, bei dem nichts ergänzt und nichts reduziert zu werden braucht.
Das bedeutete, daß das Reale ins Abenteuer der Erzählung, der Fiktion mit einbezogen, daß es dieser Ergänzung des Willkürlichen unterworfen werden mußte. Im Wechsel mit Arbeiten wie Modern Lovers, Les Espionnes, Kim oder auch Morceaux Choisis, die im Grunde auf derselben Vorgehensweise beruhen wie die Stripperinnen ihrer ersten Versuche, hat Bettina immer wieder – über lange Zeiträume hinweg und nicht ohne Risiken – die äußersten Möglichkeiten der Fotografie ausgelotet.
Chambre Close erfand Leben und Werk eines distinguierten Liebhabers, der sich über den Sucher seiner Kamera beugt wie über ein Schlüsselloch: Da sind sie, seine Freude, seine Trophäen, dieser Don Juan weidet sich an den Frauen, indem er sie auf Filmmaterial belichtet. Während ich ihm eine Stimme verlieh, erfand Bettina einen Blick für ihn.
Mit INRI wollten wir dann das Leben Jesu – in die Jetztzeit transponiert – wie in einem Freskenzyklus nacherzählen. Bei dem Projekt ging es uns nicht mehr allein darum, den Ton zu verändern; stattdessen wollten wir eine höhere Ebene erreichen, das Erzählerische in die Fotografie einführen, vor allem aber versuchen, jenem mysteriösen Mechanismus auf die Spur zu kommen, durch den das Bild zur Ikone wird.
Dann kam X'mas, eine Art Auflösung des Fotografierens in seine Grundbestandteile. Und in jüngster Zeit Shanghai, eine mise en abyme der Expansion des Selbst, jenes Unbekannten, das es jedes Mal neu herauszufordern gilt... Die Erneuerung durch die Probe als ein gewagtes Unterfangen. Und gleichzeitig, ohne je auf die organische Dichte des Fleischs zu verzichten, sie vielmehr in aller Ruhe betonen: die Fotografie als cosa mentale.
Angesichts der in dieser Retrospektive versammelten Fotografien ist dies das erste, was mir auffällt: Mystifizieren bedeutet nicht, daß man sein Objekt idealisiert, was im übrigen etwas ist, das man der Malerei überlassen sollte; und der Schwefel bläst seine Dämpfe, so weit man auch gehen mag, lediglich, um das Allerheiligste zu vernebeln, das heißt, um die Tür der Geheimnisse gerade noch erahnen zu lassen.
Über die Klarheit der Fotografie, die im wesentlichen eine triviale ist, legt Bettina die Schatten ihrer dunklen Nacht und schafft damit eine Spannung zwischen dem Künstlichen und dem Realen; und wenn sie in erster Linie Frauen fotografiert, dann spaltet sie sich selbst in tausend Persönlichkeiten: Im Grunde ist es vielleicht nichts anderes als ihre ganz persönliche Art und Weise, sich selbst zu portraitieren.
Serge Bramly