Elina Brotherus
by #ClosedButActive
Der finnischen Fotografin Elina Brotherus (*1972) widmete das KUNST HAUS WIEN 2018 eine große Mid-Career-Retrospektive. Brotherus ist international für ihre fotografischen Selbstinszenierungen bekannt, die ihre Stärke aus der Verbindung von autobiografischen, kunsthistorischen und literarischen Elementen beziehen.
Eigens für #ClosedButActive stellt die Künstlerin ihr jüngstes Werk als Slide Show zur Verfügung. Für Sebaldiana. Memento Mori hat Brotherus 2019 eine Reise nach Korsika unternommen und sich dabei von den unvollendet gebliebenen, erst posthum veröffentlichten Aufzeichnungen aus Korsika. des deutschen Schriftstellers W. G. Sebald (1944–2001) leiten lassen. Besonders interessierte Brotherus Sebalds Bericht über die alte korsische Tradition, Verstorbene nicht auf einem Friedhof, sondern an einem schönen Ort auf ihrem eigenen Land zu begraben. Das inspirierte die Künstlerin dazu, auf der Insel nach Orten zu suchen, die ihr als letzte Ruhestätte für sich und ihre verstorbenen Angehörigen geeignet schienen. Inmitten der eindrucksvollen Landschaft der französischen Mittelmeerinsel entstand so eine Reihe von eindringlichen und stimmungsvollen Aufnahmen, die die Protagonistin Brotherus mit dem für sie charakteristischen introspektiven Blick und Habitus zeigen. Diesen Selbstinszenierungen stellt die Künstlerin eine Reihe von Cyanotypien auf Aquarellpapier (aus dem Nachlass ihrer verstorbenen Mutter) zur Seite. In einer Art fotografischem Herbarium hat Brotherus Pflanzen dokumentiert, die sie auf korsischen Friedhöfen gesammelt hatte.
Den unten stehenden Text zur Serie hat die Künstlerin selbst verfasst, er gibt Einblick in Brotherus Zugang und Intention. Die die Bildabfolge begleitende Musik wurde von dem österreichischen Musiker David Geretschläger eigens komponiert. Brotherus bemerkt dazu: „Sie ist dramatisch, gleichwohl minimal, geheimnisvoll, lässt mich an die Toten denken. Aber auf eine schöne Art und Weise.“
Sebaldiana. Memento mori
Elina Brotherus
Helsinki, 29. Januar 2020
Bevor ich Korsika zum ersten Mal besuchte, las ich eine Sammlung von Textfragmenten von W. G. Sebald, Bausteine für ein Buch über Korsika, das durch seinen frühen Tod unvollendet blieb. Sebald ist ein höchst ungewöhnlicher Schriftsteller und schwer einzuordnen: Changierend zwischen Essayist, Romancier und Historiker, ist er belesen, aber nicht trocken, poetisch, aber nicht sentimental; er berührt zutiefst menschliche Themen in Hinblick auf das Nachkriegseuropa, mit ausgeprägtem Geschichtsbewusstsein. Seine Verwendung von Fotografien in seinen Büchern hat viele Künstlerinnen und Künstler inspiriert.
Sebald schreibt über ein Hotel auf den steilen roten Granitfelsen oberhalb des Dorfes Piana an der Westküste Korsikas. Sein Erzähler geht an einem abgeschiedenen Strand schwimmen und schafft es fast nicht mehr zurück ans Ufer. Auf dem Dorffriedhof bemerkt er das kleinwüchsige Unkraut, das zwischen den Grabsteinen gedeiht, einfache, zufällig dort wachsende Pflanzen, die in schroffem Gegensatz zu den gepflegten, aber strengen Friedhofsanlagen in Sebalds Heimat Deutschland stehen. Im Folgenden thematisiert er die relativ neue Nutzung von Friedhöfen auf Korsika. Nach alter Tradition wurden die Toten an einem schönen Ort auf ihrem eigenen Land begraben, vielleicht unter einem bestimmten Baum oder am Hang hinter dem Haus, von wo aus sie weiterhin das Land ihrer Vorfahrinnen und Vorfahren überblicken konnten. Die Ärmsten, die kein Land besaßen, wurden einfach in einem Gemeinschaftsgrab oder in einer Schlucht in den Bergen bestattet.
Sebald wurde mein „Reiseführer“ auf Korsika. Ich besuchte Orte, die er erwähnt: den Wald von Aïtone und das Bavella-Massiv, das Hotel, den Strand und den Friedhof in Piana sowie auch das Hinterland mit seinen skulpturalen Felsformationen. Ich gedachte meiner Toten. Ich suchte nach Orten, so schön, dass ich sie dort begraben wollen würde, wäre ich Korsin. Ich sammelte einfaches Unkraut auf dem Friedhof von Piana, um ein Herbarium anzulegen.
Mein Vater war Hobbyfotograf und schenkte mir meine erste Kamera. Als meine Mutter im Alter von 37 Jahren verwitwete, ging sie auf die Kunstschule und hatte vier erfüllte Jahre. Wegen meines Vaters bin ich Fotografin, aber wegen meiner Mutter bin ich Künstlerin.
Meine Mutter starb vier Jahre später im Alter von 41 Jahren. Sie wurde im selben Jahr wie Sebald geboren, starb aber 16 Jahre vor ihm. Kürzlich fand ich etwas Aquarellpapier, für das ihr keine Zeit mehr geblieben war, um es zu benutzen. Die Blätter waren feucht geworden, sie waren fleckig, teilweise verschimmelt. Mit diesem Papier habe ich mein Herbarium Pianense, das Friedhofs-Herbarium aus Cyanotypien, geschaffen. So wurde dieses Werk zu einer Hommage, nicht nur an die Insel der Schönheit und an meinen Lieblingsschriftsteller, sondern auch an meine Mutter, Ulla Brita Brotherus, geborene Sommar (1944–1985).